Auf die Frage, was die Menschen in Deutschland über Haiti wissen sollten, antwortete mir der Besitzer einer haitianischen Bar in London: „Die Geschichte“. Er wuchs in Haiti auf, zog als Jugendlicher nach Frankreich und stellte dort fest, dass die französischen Schulbücher die haitianische Geschichte ausließen.
Das Gespräch fand in der Tiki Bar statt. Im Rahmen eines Kurztrips nach London stoppte ich dort kurz und es ergab sich neben einem guten Essen ein wundervolles Gespräch. Als er in jungen Jahren nach Frankreich aus Haiti kam, erlebte er dort eine Realität, die im Widerspruch zu dem stand, was er in Haiti gelernt hatte. Er erzählte mir, dass die französischen Schulbücher die haitianische Geschichte völlig ausblendeten.
Er betonte, dass die Menschen – weder in Frankreich noch in Deutschland – ohne dieses Wissen niemals verstehen könnten, warum Haiti heute so ist, wie es ist. Haiti ist eines der ärmsten Länder in der Karibik. Aber warum eigentlich?
Warum zählt Haiti heute zu den ärmsten Ländern der westlichen Hemisphäre?
Um das zu verstehen, müssen wir einen Blick in die Geschichtsbücher werfen. Haiti war das erste Land Lateinamerikas, das sich aus dem Kolonialstatus befreite und 1804 seine Unabhängigkeit von Frankreich erlangte – durch die Haitianische Revolution. Sie war der größte und erfolgreichste Sklavenaufstand innerhalb westlichen Kolonien. Menschen forderten ihre Freiheit. Ein Recht, das jeder Mensch haben sollte.
Doch die Unabhängigkeit sollte einen hohen Preis haben. Frankreich zwang das Land unter Androhung von Gewalt zu Ausgleichszahlungen für die ehemaligen Sklavenhalter.
Nicht nur, dass die Sklavenhaltung von wirtschaftlichem Interesse war, nein, auch die Sklavenbefreiung war von wirtschaftlicher Ausbeutung geprägt. Die Haitianische Revolution zerstörte den Sklavenmarkt Amerikas und befreite immerhin eine halbe Million Menschen aus der Sklaverei.
Da die Sklavenhaltung in Amerika maßgeblich zum Wohlstand und Aufbau des Landes beitrug, musste ein Weg gefunden werden, weiterhin den wirtschaftlichen Status Quo aufrecht zu erhalten. Das Ende der Sklaverei stellte schließlich eine ernsthafe Bedrohung dar. Somit dienten die Zahlungen der Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Machtposition.
Diese Zahlungen belasteten die Wirtschaft Haitis enorm und trugen zur Armut des Landes bei. Frankreich akzeptierte Haitis Unabhängigkeit erst 1825 unter der Bedingung dieser sogenannte Entschädigungsleistungen. Wohl gemerkt, Entschädigungsleistungen für Frankreich – nicht etwa die Menschen, die zur Skalverei gezwunden wurden.
Moment mal? Erst werden die Menschen verschleppt und versklavt und dann bezahlen sie anstatt das man sie entschädigt?
Ja genau so ist es.
Haiti konnte diese Schulden erst 1947 begleichen. Die Kolonialherren hinterließen darüber hinaus eine einseitige Wirtschafts- und Sozialstruktur, die auf den Export ausgerichtet waren, so dass trotz der Unabhängigkeit eine wirtschaftliche Abhängigkeit der westlichen Länder vorherrschte.
Diese lange finanzielle Belastung verhinderte die wirtschaftliche Entwicklung und den Aufbau eines unabhängigen Staates. Bis heute hat Haiti weder eine formelle Entschuldigung noch eine Entschädigung für die erlittene Sklaverei und die ungerechten Zahlungen erhalten.
Diese Geschichte ist in der DNA vieler Haitianer*innen und es prägt sie. Es macht sie stolz, zugleich traurig, dass dieser Teil in Europa kaum bekannt ist. In Geschichtsbüchern? Nie erwähnt. Nein, viel mehr lernen wir weiße Menschen, dass Kolumbus ja Amerika entdeckt hat – doch ich frage mich mittlerweile, je mehr ich mich mit Sklaverei, der haitianischen Revolution und dem transatlantischen Sklavenhandel auseinandersetzte: Wie kann man etwas entdecken, das schon existierte?
Last Updated on 15/02/2025 by Marie